“Piss-In”?

Ich fing gestern noch mehr ernsthafte Kritik ein als die, ich habe der jüngeren Wunschbewegung zuwenig Sorgfalt angedeihen lassen, also Beinahebetrug an meinen Lesern begangen, weil in deren Schriften ja doch eine Jahrtausendidee das Licht der Welt erblickt haben könnte.

Derselbe gute Freund meinte nämlich darüber hinaus, ich hätte im Artikel “Raus” meine durchaus originelle Idee eines gigantischen “Piss-Ins” – vielleicht besser “Piss-Aufs” – am Berliner Reichstag achtlos vergeudet beziehungsweise entwertet, indem ich sie so indirekt und im Zusammenhang mit alkoholisierten Obdachlosen präsentierte. (Sie ist übrigens älter als die Finanzkrise, aber jünger als der Afghanistan-Krieg.)

Diesmal bin ich geneigt, ihm teilweise zuzustimmen, weshalb ich flugs versuchen will, die Scharte auszuwetzen.

Ich wollte in einer Zeit, da schon mindestens ein Gewerkschaftsboss, ein Parteichef und eine Bundespräsidentschaftskandidatin vor sozialen Unruhen warnen, die Sache nicht offensiv angehen, da ich von gewaltsamen “Lösungen” in Deutschland genausowenig halte wie anderwo.

Zwar erfüllte ein Anpinkeln des Reichstags sicher nicht den Straftatbestand der schweren vorsätzlichen Körperverletzung, wie sie unser Ehrendoktor Joseph Fischer für ihn folgenlos gegenüber einem wehrlos am Boden liegenden Polizisten beging; ich glaube aber trotzdem nicht, dass diese Form der möglichen geringen Sachbeschädigung jetzt dienlich wäre, um das politische Berlin zur Einsicht zu bringen, zumal die Polizeikräfte sicherlich mit Gewalt dagegen einzuschreiten angewiesen und dem bisher auch noch Folge leisten würden.

Wir sollten als Deutsche in der Tat Ruhe bewahren und es “unschuldigeren” Völkern überlassen, ihre korrupten Führer über den Weg von “Piss-Ins” und anderer Protestformen zur Einsicht zu bringen, wenn sie meinen, dies täte not, erhört zu werden.  (Einen gewissen nationalen Charme und Reiz besäße so ein Pissauf natürlich schon; wir bierseligen, rohen Dumpfbackengermanen hätten der ganzen Welt mit unbestreitbar tausendfachem Strahle immerhin bewiesen, dass wir zwar nicht den supersubtilen Humor z.B.  der Engländer besitzen, aber immerhin überhaupt welchen…)

Ich rate vorläufig aber nicht nur ab, weil ich auf Einsicht setze und Gewalt verabscheue, die diesem Spaße wahrscheinlich folgte, sondern weil der deutsche Michel derzeit durch Zurückhaltung weder Schlafmützigkeit noch traditionelle Unterwürfigkeit gegenüber der Obrigkeit zeigt noch auch irgend Feigheit; nein, als ein Land von großer wirtschaftlicher und strategischer Bedeutung, das immer noch der UN-Feindstaatenklausel unterliegt und eben keinen Friedensvertrag hat, wäre es grob fahrlässig zu glauben, Souveränität sei gewährt und damit Nichteinmischung in innere Angelegenheiten.

Daher, liebe Landsleute, ist es nur klug, alle anderen ihre Regierungen anpinkeln  zu lassen, wenn es nicht anders geht, diesem zielführenden Urinabschlagen so lange zuzuschauen, bis uns alle Nachbarn vorwerfen, dass wir nicht dasselbe täten, um pflichtschuldigst europäische Solidarität zu üben, zumal ja die Idee dazu auch noch aus Deutschland stammt.

An dem Punkte danken derzeit noch halblustige amerikahörige Afghanistan-Krieger und Bankenhurer, soweit es solche an der Spree überhaupt geben sollte, was ja glücklicherweise nur wenige glauben, wahrscheinlich freiwillig ab.

Ansonsten wären wir wohl tatsächlich gezwungen zu demonstrieren, dass wir nicht schon wieder als das für alle unberechenbare Volk der Sonderwege am Pranger stehen wollen, weil wir nicht einmal unsere Notdurft an dem entsprechenden  Orte verrichten, wo dies alle kultivierten Völker zu tun pflegen.

Spätestens dieses zivilisatorisch zwingende Argument würde dann wohl selbst im geistig-moralisch unterbelichteten Teil Berlins verstanden.

Vielleicht müssen die ihr Volk nicht hören wollen noch sehen es riechen.

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